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Das Herz unserer Stadt - Die Insel

Unbeschadet sind wir über den Königsdamm (rechts hinten – für Nicht-Ratzeburger!) auf die Stadtinsel gelangt und haben dabei einen Zeitsprung rückwärts erlebt.

Schon treffen wir einen bekannten Arzt, voller Stolz vor seinem Automobil stehend: Dr. Karl Hajen. Voller Stolz, denn sein Auto ist eins der allerersten in Ratzeburg.

Das Foto zeigt recht eindrucksvoll die Verkehrs­probleme um die Jahrhundertwende 1900, wenn man sich nämlich vorstellen mag, wie die Pferde womöglich auf den ungewohnten Motorenlärm reagieren! Kutscher Thöms soll mal den Motor starten! Na ja, solange das Monstrum keinen Lärm macht, kann auch der Gaul ruhig stehen bleiben!

Das Hajen’sche Haus steht heute noch an der Ecke Langenbrücker-/Seestraße. Der Blick geht zum Markt. Welch ein Idyll!

Es konnte jedoch auch anders (blutiger) sein! Die Brücke führt über den kleinen Kanal, der Domsee und „Spucknapf“ verbindet. Zur Zeit des Fotos mündete ein Abwasser-Rohr an der Brücke in den Kanal, erklärlich bei dem leichten Gefälle. Ab und zu geschah es, dass Wasser mit leicht rötlichem Ton aus dem Rohr floss. Dann sagten die Passanten wohl: „Nu kiek, Slachter Korl is bi’t Operieren!“ Die Wahrheit: Oberhalb des Grundstücks der Familie Hajen arbeitete ein Fleischerei-Betrieb. Der Ursprung der roten Farbe lag in ebendiesem Betrieb! Unser Foto bezeugt das segensreiche Wirken des alten Doktors, das bestimmt nichts mit seinem Spitznamen zu tun hatte.

Die alten Aufnahmen verdanken wir den Enkelinnen Eva und Inge, Töchter des Arztes Dr. Rudolf Hajen: Danke! Der Patient ist nicht Karl Pechascheck; von seiner „Operation“ bei „Slachter-Korl“ ist in dem ihm gewidmeten Kapitel die Rede. Der junge Helfer ist uns unbekannt, ebenso der Patient.

Etliche Ratzeburger Haushalte wurden vom Fischer Federow aus der Feldstraße freitags mit Fisch und sonnabends mit Gemüse beliefert. Zu seinen Stammkunden zählte auch die Familie Hajen. Dr. Hajen hatte seinen Haupteingang an der Langenbrückerstraße. Er achtete sehr darauf, was seine Frau kaufte und wo sie mit dem Geld blieb. Er muss recht geizig gewesen sein und war ja schließlich auch der Herr des Hauses! Einmal hatte er bemerkt, dass Federow seine Frau über den hinteren Kücheneingang in der Seestraße beliefert hatte. Sie hatte sich einen schönen Kopf Salat ausgesucht. Karl aber hatte Appetit auf Spargel. So rief er den Händler zu sich und verlangte von ihm, dass er den Salat zurück nahm, und suchte sich frischen Spargel aus. Der Preis des Salats musste mit dem des Spargels verrechnet werden.

Als vielbeschäftigter Arzt war Dr. Hajen bestrebt, Arbeiten zu delegieren. Auch die Behandlung von Zahnschmerzen fiel zu der Zeit noch in den Arbeitsbereich eines Allgemein-Arztes, gefiel ihm jedoch offensichtlich nicht besonders. Das Zähne-Ziehen überließ er großzügig seinem Kutscher Thöms, nachdem er den kranken Zahn mit einem schwarzen Stift deutlich markiert hatte. – Der Kutscher musste übrigens, als der Chef sein Automobil erworben hatte, die Fahrprüfung ablegen und wurde somit vom Kutscher zum Chauffeur befördert.

In unseren „Geschichten vom St. Georgsberg“ gibt es noch die ergötzliche Begebenheit einer „Maulsperren-Behandlung“ durch den studierten Herrn.

Im August 2011 saßen zwei der drei „Redakteure“ mit Gerhard Bernhöft (inzwischen verstorben) im Seehof beisammen und ließen sich von ihm alte Geschichten erzählen, u.a. von „Slachter-Korl“, aber natürlich auch Begebenheiten aus seiner eigenen Jugendzeit. Er ist in Hajens Nachbarschaft aufgewachsen, in der Seestraße.

Er hatte als 10-Jähriger in den dreißiger Jahren das Amt des Flaggenhissens bei den Nachbarn Dr. Hajen und Sanitätsrat Buddenberg übernommen. An besonderen Feiertagen verlangten die NS-Machthaber, dass geflaggt wurde. Nun wohnte in der Seestraße (im Hause der Gärtnerei Voß) auch Fräulein Friederike Gluth, Tochter des uns bekannten Bademeisters „Vadder Gluth“; sie war strenge Parteianhängerin. Sie achtete darauf, dass mit ausgestrecktem rechten Arm und „Heil Hitler!“ gegrüßt und die Fahnenpflicht beachtet wurde, was bei den Nachbarn teilweise nur belächelt wurde. So auch bei Frau Sanitätsrat Buddenberg. „Heute lässt du das Hakenkreuz drinnen und hängst Schwarz-Weiß-Rot raus“, sagte sie dem Jungen. Wer beschreibt das Entsetzen, als Fräulein Gluth mit ihrem Krückstock um die Ecke kam und die verhasste Flagge entdeckte! Das hätte schnell zu einem bösen Flaggenkrieg ausarten können, wenn nicht Gerhard schnellstens die Fahnen ausgetauscht hätte.

Als der junge Gerhard Bernhöft Heiligabend 1943 aus dem Wehrertüchtigungslager Husum nach Hause kam, war es schon 17 Uhr. Sein Vater arbeitete noch in der Tischler-Werkstatt. „Schön, dass du da bist. Du kannst noch schnell zu Fischer Buhck fahren und den Karpfen abholen“, sagte er. Fischer Buhck wohnte aber in Lassahn auf der anderen Seite des Schaalsees. So machte Gerhard sich per Fahrrad auf den Weg. Um neun war er zurück. Nur gut, dass ihm Frau Buhck eine dicke Stulle mit Leberwurst gemacht hatte. Leberwurst mochte er eigentlich nicht so gern, aber seitdem war sie sein liebster Brotaufstrich.

Und weil wir schon von der Seestraße sprechen: In den „Lübecker Nachrichten“ fanden wir den wundervollen Bericht über den Ausrufer Hannes Lubmann (gest. 1930) von Hans-Jürgen Wohlfahrt (gest. 2014). Dat dor ´n „r“ fehlt, sall uns nich störn: „Hiermit wart bekannt mokt . . .“

Ein Tandem der besonderen Art? Bei Hans-Georg Kaack lesen wir über die Geschichte dieser erstaunlichen Konstruktion: „Der ‚Krankentransportwagen‘ besteht aus einem zweirädrigen Fahrgestell mit freischwingender Doppelfederkonstruktion. Die Räder haben einen kräftigen Gummibelag. Die Krankentrage war nach den damals modernsten Erkenntnissen konstruiert und hat ein Verdeck aus wasserdichtem Segeltuch.

Noch bis zum Jahre 1945 wird dieser Krankentransportwagen benutzt, und man kann sich vorstellen, welche Mühe es für die Angehörigen der Sanitätskolonne ist, damit einen Kranken bis zum Wilhelm-Augusta-Krankenhaus auf dem Röpersberg zu transportieren.“

Die „Ratzeburg-St. Georgsberger Krieger-Sanitätskolonne vom Roten Kreuz“ war 1902 gegründet worden. Ihr erster Vorsitzender war Dr. med. Busch; er begann schon bald mit der Ausbildung der Mitglieder in der Aula der Lauenburgischen Gelehrtenschule. – Und nun kommt endlich der Augenblick, wo wir eine Frau würdigen können:

Else Wiegmann (1908-2003, Ehefrau von Erich W.), die 1935 dem DRK beitrat und bis ins hohe Alter unermüdlich für dessen Ideale tätig war; dafür erhielt sie 1979 die Plakette „Für Verdienste um die Stadt Ratzeburg“.

Manche/r, die/der unsere Arbeit über „Alte Ratzeburger“ verfolgt, hat bestimmt längst gemerkt, dass bisher kaum eine alte Ratzeburgerin vorkam. Das war nicht Vergesslichkeit oder gar männliche Bosheit, sondern lediglich der Tatsache geschuldet, dass Frauen in der hier behandelten Zeit kaum eine Rolle in der Öffentlichkeit spielten. Junge Leute werden Schillers „Lied von der Glocke“ sicher nicht, schon gar nicht in Teilen auswendig kennen. Ihnen zur Unterrichtung und uns Älteren zur Erinnerung soll hier mit Friedrich Schillers Worten, vor mehr als 200 Jahren aufgeschrieben, ein ehernes Gesetz für das gedeihliche Miteinander im gesellschaftlichen Leben bis ins 19. Jahrhundert hinein vor Augen geführt werden:

„Der Mann muß hinaus
Ins feindliche Leben,
muß wirken und streben
und pflanzen und schaffen,
erlisten, erraffen,
muß wetten und jagen,
das Glück zu erjagen.
Da strömet herbei die unendliche Gabe,
Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe,
Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus.

Und drinnen waltet
die züchtige Hausfrau,
die Mutter der Kinder,
und herrschet weise
im häuslichen Kreise,
und lehret die Mädchen
und wehret den Knaben,
und reget ohn Ende
die fleißigen Hände
und mehrt den Gewinn

mit ordnendem Sinn. . . .
Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer,
und ruhet nimmer.“

Bis ins vorige Jahrhundert galt also diese Rollenverteilung unter den Geschlechtern - mit Ausnahmen. Im sozialen Bereich etwa spielten Frauen schon immer eine große Rolle. Unter den Ratzeburger Plakettenträgern sind in den Anfangsjahren drei Frauen: außer Else Wiegmann waren das Frieda Behrend und Dora Steinfadt, alle drei ausgezeichnet für ihr soziales Engagement. Zwei Weltkriege aber veränderten die bisherige Rollenverteilung grundlegend, denn die Frauen wurden von den neuen Lebensbedingungen gezwungen, bisher fast nur den Männern vorgesehene Aufgaben zu übernehmen, am sinnfälligsten dokumentiert in der Arbeit der Trümmerfrauen im und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gottlob gab es in Ratzeburg keine Trümmerberge. Aber wir können hier z.B. von einer tüchtigen Handwerkerin und Geschäftsfrau berichten, deren Name bis heute bekannt ist, jedenfalls, wenn man von Damenbekleidung und Mode spricht. Das von Hilda Möhler gegründete Geschäft am Markt bewahrt die Erinnerung.

Es hat lange gedauert, bis eine Frau Bundeskanzlerin werden konnte oder Pröpstin in Ratzeburg. Aber nun sind wir auf dem Weg in eine neue Zeit – Gott sei Dank.

Eine eindrucksvolle Schilderung vom Leben als Kind auf der Insel in den dreißiger Jahren hat uns Lisa Christelsohn überlassen, früher Lehrerin in Ratzeburg. Wir ergänzen ihren Beitrag mit zwei alten Postkarten-Fotos von der Domstraße.

Bei dem Gasthaus links vorne handelt es sich um das von Frau Christelsohn beschriebene „Hotel Stadt Hamburg“ ihres Großvaters. Frau Christelsohn schreibt:

„Meine Mutter war eine gebürtige Ratzeburgerin, die Tochter des Gastwirts Heinrich Koop, der seit 1900 den Gasthof ‚Hotel Stadt Hamburg‘ in der Domstraße 7 besaß und bis 1952 führte. In dieser Zeit verlebte ich mit meinen beiden Geschwistern fast jedes Wochenende, auch die Schulferien zu allen Jahreszeiten bei meinen Großeltern Koop in der Domstraße. Aus den dreißiger Jahren sind mir Ereignisse in Erinnerung geblieben, die einmalig sind.  

Weil wir Kinder den Gästen und dem Personal des Gasthofes zumeist im Weg standen, fand unser Aufenthalt draußen auf dem Hof oder der Straße statt, und das bei jedem Wetter. Kam ich vorn zur Gaststube hinein, sie war für mich eigentlich immer ein Tabu, dann wurde ich schnurstracks hinten zur Küchentür hinaus geworfen.

Mich konnte man gut im Pferdestall gebrauchen. Es gab einen Pferdeausspann. Und der ging so: An Markttagen, auch zur Vorbereitung von Festen kamen die Landwirte und Bauern mit Pferd und Wagen aus den umliegenden Dörfern, aus Mechow, Thurow, aus Disnack und Einhaus zum Einkaufen auf den Markt, brachten auch ihre eigenen landwirtschaftlichen Produkte mit, die sie verkauften. Frühmorgens rollten die Pferdefuhrwerke durch die Domstraße, die Pferde wurden ausgespannt und in unseren Stall verbracht, die Wagen „parkten“ mit hochgestellten Deichseln am sandigen Straßenrand. Ich höre im Geiste noch die Zwiegespräche zwischen meiner Großmutter und den Bauern in einheimischem Plattdeutsch: „Wat hebbt ji mitbröcht? Woans geiht dat Mine, diene Frau? Kam rin, wenn du allens erledigt häst.

„Friedrich“, unser Kalfaktor, der für alles zuständig war, versorgte die Pferde. Aus großen Zinkeimern wurden sie getränkt, in die Futterkrippen hatten die Besitzer bereits den Hafer gestreut, den die Tiere zur Stärkung fraßen. Ich durfte auf einen Holzhocker klettern und beim Striegeln und Putzen helfen, aber nur bei den ruhigen Artgenossen. Sie konnten nämlich auch böse werden, ausschlagen und sich losreißen. Friedrich hatte für alle Fälle Schwarzbrot oder auch Zuckerstücke in der Tasche und beruhigte die besonderen Gäste. Einmal durfte ich mit Friedrich, der den „Prinz“ an der Leine führte, ein Stück bis in die Brauerstraße und zurück reiten. Sternstunden für eine Siebenjährige!"

Domstraße und Brauerstraße

Das Gebiet Domstraße/Ecke Brauerstraße war unser Spielplatz. Ich kann mich kaum an Autos erinnern, die uns oder wir sie gestört hätten. Wenn es welche gab, dann kamen sie ganz langsam, so dass wir mit unserem Springtau an die Seite ziehen konnten. Ja, an das Brauerei-Auto erinnere ich mich noch gut. Der große Wagen hatte Bierfässer und Roheis geladen. Wenn er vor dem Gasthaus hielt, strömten wir Kinder dorthin. Die kräftigen Biermänner – so nannten wir sie – waren mit dicken Lederschürzen versehen, trugen einen Lederschutz um die Schultern. Die Holzfässer rollten sie durch die Hofeinfahrt bis zur Kellerluke. Die hebelten sie auf. Und dann mussten sie die schweren Tonnen die steile Kellertreppe hinunterwuchten: Schwerstarbeit. Ich höre noch das Dröhnen und Poltern.

Das Roheis war in balkengroßen langen Stücken gefroren, lag in einer Zinkwanne. Die „Biermänner“ rissen es mit langen Eisenhaken auseinander und schulterten es jeweils. Ein Teil verschwand im Keller und kühlte dort den Getränkevorrat. Der andere Teil wurde in kleinere, aber nicht zu kleine Stücke in einem Jutesack zerschlagen und kam in Großmutters Eisschrank in die Speisekammer. Der Eisschrank sah aus wie ein größerer Nachtschrank mit einer Tür davor, innen mit Zink ausgeschlagen, mit einem Zwischenboden versehen. Nach unten kam das Eis, darüber wurden die Lebensmittel gestapelt, die gekühlt für einige Tage haltbar blieben, bis das Eis geschmolzen war und das Wasser durch eine kleine Öffnung in eine Schüssel gelaufen war. Alle paar Wochen kam der Brauereiwagen. Ich habe oft auf ihn gewartet, weil an dem Tag, an dem Roheis geliefert wurde, meine Großmutter mit einer besonderen manuell betriebenen Eismaschine Speiseeis zubereitete und uns Kinder damit erfreute.

Zur Ecke Domstraße/Brauerstraße gehört ein besonderes Bild, das ich versäumt habe zu malen, aber es lässt sich vielleicht beschreiben. Es ist Nachmittag, ein Alltag wie jeder andere auch, das Wetter ist gut, d.h. es regnet nicht, aber Wolken und Wind sind zugelassen. Ich spiele mit meinen Freunden „Hinkepott“, wir laufen um die Wette, hier und da hat auch einer einen Ball dabei. Der wird gefangen, gerollt, getreten. Wenn es gar zu wild zugeht, dann kommt uns eine ältere Frau dazwischen. Sie ist vermutlich jünger, als sie aussieht: Klein, untersetzt, gedrungene Figur, ihr Kopf sitzt auf dem Rumpf, sie hat lockiges kurzes Haar mit einem Stirnband und einer Mütze versehen, stechende dunkle Augen. Ihre kurzen Beine sind von einem langen, dunkelblau mit Blümchen versetzten Rock umhüllt. Sie trägt eine saubere längere Schürze, hat die Arme angewinkelt, in der rechten Schürzentasche lugt ein Wollknäuel an einem langen Faden hervor. Frau Motzikeit strickt. Sie strickt Strümpfe in allen Farbschattierungen. Dabei geht sie auf dem „Trottoir“ hin und her, bleibt auch stehen, hält hier und da einen Schwatz, hält aber mit dem Stricken niemals auf. Für mich in meinen Kindheitstagen ist sie von der Ecke Brauerstraße/Domstraße nicht wegzudenken. Sie kann durch ihre Brille ihre Handarbeit und über den Brillenrand auch uns verfolgen. Schaut sie aber, den Kopf nach hinten in den Nacken gestreckt, unten durch die Brille hinweg, dann ist es besser, wenn wir uns verziehen! Sie hat nie geschimpft, ihre Stimme habe ich nur leise vernommen, wenn sie hin und wieder ein Lied geträllert hat.

Zu dieser Idylle gehört eine unsanfte Unterbrechung. Einmal in zwei Wochen wird mein Großvater mit Brause beliefert. Säfte produziert meine Großmutter selbst; der Garten an der Kokerei unterhalb der Brauerstraße bringt genügend Früchte. Rote, grüne und weiße Brause liefert nicht die Brauerei. Da kommt „Brausemöller“. Er hat eine kleine Fabrik im Hinterhof in der Brauerstraße gleich um die Ecke. Ich bin zwar als Kind einmal dort gewesen, aber Brausemöller war nicht unbedingt kinderfreundlich. Er Lieferte seine Kästen auf einer sogenannten Schottschen Karre, auf einem Kastenwagen. Auf zwei Hochrädern schob er an zwei Stangen fast in Brusthöhe die Karre durch den Sand, auch über das Holperpflaster, das es hier und da gab. Das Quietschen der Karre und das Knarren der eisenbeschlagenen Holzräder hörten wir von weitem. Wir stürmten nach Hause, denn wir hatten Aussicht auf eine Brause. Das muss ein so kostbares Getränk gewesen sein, teurer als Bier, denn ich musste mir immer eine kleine Flasche Brause mit meiner Schwester teilen, und meine Freunde gingen zumeist leer aus. Zu meinen Ferien bei meinen Großeltern gehören Brausemöller und Frau Motzikeit!"

Mit diesem Foto finden wir uns in der Herrenstraße und einige Jahrzehnte später. Den Text hat uns Herr Jochen Eule übermittelt, der 2015 verstorben ist. Er arbeitete im Fernmeldebau und hat sich für die Wahrheit der Geschichte verbürgt; wir müssen nur den „Tatort“ einige Meter nach unten (oder oben) verlegen:

„Als zu Beginn der 60er Jahre die Handwerker des damaligen Fernmeldebautrupps den großen Kabelschacht vor dem Postamt Ratzeburg zum Zwecke von Montagearbeiten öffneten, schlug ihnen ein bestialischer Fäkaliengestank entgegen. Mit Hilfe des Entsorgungsbetriebes aus der Seestraße wurde der Kabelschacht ausgepumpt und gereinigt. Schon bei den Arbeiten konnte die Ursache festgestellt werden. Aus einem freien Kabelkanalzug Richtung Markt kamen die Überreste menschlicher Verdauung angelaufen.

Mit einer Stahlspirale wurde aus dem nächst höheren Schacht die Stelle festgestellt, an der die Einleitung erfolgte. Dort, etwa in der Mitte der oberen Herrenstraße, grub man den Gehweg auf – und siehe da: Ein findiger Mitbürger, dessen Namen wir nicht verraten, hatte einen freien Kabelkanalzug (damals waren es noch Betonformstücke) angeschlagen und sein Abwasser dort eingeleitet.

Er war seine Schei... los und die Bundespost war die Angesch...ene. Man sagt, dass in Ratzeburg seit der Behebung dieses Missstandes keine besch...enen Gesprächsverbindungen mehr zu Stande gekommen sind.“  

Nach dieser anrüchigen Geschichte, in der weder die Herren Albert Hannig (Fotograf) noch Friedrich Kutscher (Buchhändler) eine Rolle gespielt haben, wollen wir schleunigst in wohlriechende Gefilde zurückkehren! Warum die beiden angesehenen Ratzeburger Bürger hier erwähnt werden? Das Haus, vor dem gearbeitet wird, beherbergt Laden und Atelier Hannigs, das helle dahinter vor der Post ist noch heute eine Buchhandlung.

Weil wir von der Post sprechen: Dieses Bild entstand um 1900. Die Mitarbeiter haben sich auf dem Hof zwischen Herren- und Töpferstraße um die Postkutsche versammelt; „Hoch auf dem gelben (?) Wagen“: Friedrich Wilhelm Küsel.

Und auf dem rechten Foto: Dieselbe Wagen-Besatzung, aber nun schon neben der neuen Konkurrenz, einem wahnsinnig modernen Kraftfahrzeug! Man beachte den Motor des Dreirads!

Ein Ereignis, bei dem viel mehr Männer) eine reizende Rolle spielten, begab sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. „Mehr reizende Männer?" Kein Wunder, es ging um Skat.

Emil Nöthen, Gastwirt im "Fürst Bismarck", veranstaltete etwa ein halbes Jahr nach der Währungsreform (1948) einen Preisskat, wie ihn de Welt (oder jedenfalls Ratzeburg) noch nicht gesehen hatte: Der Hauptgewinn - ein Volkswagen!

Auf den beiden Fotos, die Frau Konnie Hecht, geb. Nöthen freundlicherweise zur Verfügung stellt, sieht man ihren Vater und einen Teil der Männer, die sich angemeldet hatten; es waren 500! Eine Frau ist jedenfalls auf unserem Bild nicht zu entdecken. So viele Teilnehmer konnte Nöthen selbst im großen Saal seines Hauses nicht unterbringen. Die Restaurants "Wittlers Hotel", "Stadt Hamburg" und "Stadt Lübeck" halfen aus. Der Einsatz betrug übrigens 25 DM.

Hilfe war aber auch noch von zwei anderen Seiten erwünscht und willkommen: Zur korrekten Auszählung für das Ermitteln der Sieger stellten sich einige Mitarbeiter der Kreissparkasse zur Verfügung. Damit alles mit rechten Dingen vonstatten ging, überwachten Beamte der Kriminalpolizei das Skatdreschen!

Gegen 5 Uhrmorgens waren die Ergebnisse ermittelt und der stolze neue Besitzer eines "Käfers" konnte heimwärts fahren: nach Hamburg!

,,Mein Vater, der Drechsler«

Es lohnt wirklich, den Link zu lesen, in dem der Sohn seinen Vater Rudolf Schmidt liebevoll beschreibt!

 

Anfang der 60er Jahre: Hans Henning Schreiber besichtigte während einer Reise gen Süden die Kaiserdome von Speyer und Worms. Er wurde vom Interviewer des Südwestfunks um seine Eindrücke gebeten. Schreiber (etwa wörtlich): „Ja, wissen Sie: Natürlich bin ich beeindruckt von beiden Bauwerken. Aber ich darf Ihnen sagen, dass mein (!) Dom in Ratzeburg genau so alt ist wie Ihre Kathedralen. Im Vergleich kommt er mir jedoch jünger vor, etwa wie ein junges Mädchen.“ Das war denn wohl eine Kurzvorlesung zum Lobe norddeutscher Backsteinkirchen.

Bevor wir unsere Arbeit mit Geschichten und Bildern von alten Ratzeburgern und vom alten Ratzeburg beenden, gibt es hier noch ein kleines Angebot für unsere geduldigen und interessierten Leser:

Im Laufe unserer Materialsammlung fand sich ein Poesie-Album aus den Jahren 1922/23. Die Herkunft ist nicht mehr bekannt; wer uns helfen kann, möge sich bitte melden bei Hans-Joachim Höhne, entweder telefonisch unter der Nummer 04541-4169 oder per E-Mail: ehhoehne@yahoo.de .

Hier folgt nun die alphabetische Liste der Namen, die sich im Album mit ihren Eintragungen finden. Wir sind gerne bereit, gewünschte Seiten zu kopieren und Ihnen auf die Weise zugänglich zu machen, entweder wiederum per E-Mail oder in einem Brief (bitte Anschrift mitteilen).

Ratzeburg:
1. Kantor i.R. Cobobus  2. Bierschenk, Walter  3. Burmester, Karl 4. Dierk, Hans  5. „Dein Dorchen“  6. Haack, Wilhelm 7. Junge, Else  8. Jurkowski  9. Jurkowski, Wilhelm 10. Kaben, Wilhelm  11. Knüpfer, Walter  12. Köppen, Hans 13. Köppen, Walter  14. Körner, Hermann  15. Kröger, Liselotte R. 16. Pingel, Wilhelm  17. Rothländer, Albert  18. Rothländer, Otto 19. Scharff, Werner  20. Schnidling, Fritz  21. Schuppenhauer, Herbert 22. Schwerdtfeger, Herbert  23. Urbrock, Hugo  24. Weihs, Fritz

Bäk:
25. Hundt, Wilhelm  26. Karrasch, Paul

Dechow:
27. Wiencke, Ernst

Einhaus:
28. Rath, Hugo

Mechow:
29. Janssen, Heinrich  30. Kock, Rudolf

Mustin:
31. Lübc(?)ke, Wilhelm  32. Wittfoot, Hans Werner

Sande:
33. Rieckhoff, Hans

St. Georgsberg:
34. Jacobsen, Karl  35. Wallbaum Auguste  36. Wallbaum, Louise

Ziethen:
37. Murjahn, Karl

Zum Schluss bleibt für uns ein herzliches „Dankeschön“ an alle, die uns mit Texten und Bildern geholfen haben oder nur mit einem nützlichen Hinweis, und eine Bitte um Verständnis wie Nachsicht, wenn wir nicht alle Persönlichkeiten gewürdigt haben, die unsere Würdigung verdient hätten.

Hans-Joachim Höhne Christian Lopau Klaus-Jürgen Mohr


Mein Ratzeburg
(von Erika Seifried)

Hat auch die Zeit das Bild verändert:
Viel Altes ging und Neues kam.
Scheint mir das Leben mal beflügelt
und manchmal grau und freudenlahm.
Will ich es oft auch gar nicht fassen,
dass viele Jahr‘ vergangen sind,
seit ich in jenen Straßen spielte,
damals, als ich ein kleines Kind.

So suche ich doch noch immer gerne
 nach Plätzen, die mir lieb vertraut.
Sind alte Häuser längst verschwunden,
modern und dafür neu erbaut,
so sag ich doch aus vollem Herzen:
 So vieles blieb, wie es einst war:
 die Seen, der Wald, der Dom, die Insel.
 Mein Ratzeburg bleibt wunderbar!

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